Jede Woche küren wir bei wmn unsere weekly heroine – eine Frau, die uns inspiriert und von der wir lernen können und wollen. Diese Woche ist das Aino Simon. Die Paartherapeutin hilft Menschen, Beziehungen neu zu denken und auf ganz individuelle und vielleicht manchmal noch ungewohnte Weise glücklich zu werden.
Aino Simon kurz & knapp:
- Aino Simon ist Sozialwissenschaftlerin sowie Paartherapeutin und arbeitet in Berlin
- Sie selbst lebt seit 18 Jahren in einer offenen Ehe
- In ihrem Praxisprogramm „Couple Care“ arbeitet sie sowohl mit monogam lebenden als auch mit polyamoren Paaren
- In ihrem Buch „Liebe lieber einzigartig“ ? schreibt sie über die Grenzen der Monogamie und wie du einen Betrug verarbeiten kannst
Aino Simon im Interview: „Wir müssen endlich lernen, über Gefühle zu sprechen“
Im Interview sprechen wir mit Aino Simon über offene Beziehungskonzepte und wie wir in unseren Beziehungen das Glück finden können, das wir suchen.
wmn: Wieso betrügen Menschen ihre Partner:innen?
Aino Simon: In einer Beziehung geht es im Grunde immer darum, dass beide Parteien ihre Bedürfnisse befriedigen können. Dass sie ihre Träume verwirklichen können. Und was das jeweils ist, ist ganz individuell. Vor allem verändern sich diese Bedürfnisse im Laufe eines Lebens ganz häufig.
Ein Betrug entsteht oft deshalb, weil wir nicht miteinander über diese Dinge reden. Da schlummert ganz viel in uns, was wir niemals zeigen und selbst in dieser ganz nahen Beziehung uns niemals trauen auszusprechen. Weil wir es vielleicht selbst gar nicht bemerken oder auch weil es so ungewohnt ist, darüber zu sprechen.
„Für viele Menschen ist es keine schöne Vorstellung, das restliche Leben nur noch diesen einen Mund zu küssen.“
wmn: Was hat die Monogamie damit zu tun?
Aino Simon: Wenn Paare zusammenkommen, sind sie in der Regel automatisch monogam. Das lernen wir so kennen und halten es deshalb für normal. Nicht, weil man darüber gesprochen und es dann beschlossen hat. Und das ist ein großes Problem. Denn die Monogamie ist eine tolle Sache, aber nicht alle Bedürfnisse lassen sich darin erfüllen. Und genau die werden dann verdrängt, weil man sie für „falsch“ hält.
Aber es ist doch immer wieder im Leben so, dass eine bestimmte Situation entsteht und sich in der Folge ein Bedürfnis durchsetzt. Ob du willst oder nicht. Und deshalb lautet meine Empfehlung an alle Frischverliebten und neue Paare: Redet über diese Themen. Und versucht mal, diese Tabus zu erkennen, und ob das auch für euch Tabus sind.
Für viele Menschen ist es keine schöne Vorstellung, das restliche Leben nur noch diesen einen Mund zu küssen. Aber wir sprechen nicht darüber. Und so entsteht im Untergrund die Basis für einen späteren Betrug.
„Anzufangen, über Gefühle zu sprechen ist schon der Beginn des Lernens.“
wmn: Wie kann man lernen, über solche Themen zu sprechen, wenn es sich doch noch so fremd oder „falsch“ anfühlt?
Aino Simon: Dazu muss man sich darauf einlassen, dass über Gefühle zu reden okay ist. Die meisten Menschen lernen im Laufe ihrer Sozialisation nicht, über Gefühle nicht zu sprechen. Vor allem Jungen geht das so.
Das führt zu einer Entfremdung vom eigenen Empfinden. Viele Menschen haben nie gelernt, wie sich Gefühle eigentlich anfühlen und welche Bedürfnisse hinter diesen Empfindungen stehen. Und dann passiert es, dass die Gefühle den Menschen steuern, ohne dass dieser das so richtig merkt. Das Unterbewusstsein übernimmt die Kontrolle.
Anzufangen, über Gefühle zu sprechen ist schon der Beginn des Lernens. Es sind nicht nur Gefühle, die das Handeln steuern, sondern auch Glaubenssätze. Vorstellungen wie „Das und nichts anderes ist Liebe.“ Die meisten Menschen denken, wenn sie kommunizieren, dass sie sich zum Beispiel fremdverliebt haben, werden sie verlassen.
Sie zweifeln dann auch selbst an der eigenen Liebe. Das Risiko verlassen zu werden möchte niemand eingehen. Aber es ist genau dieses Risiko, das wir eingehen müssen, wenn wir offen kommunizieren wollen. Wir müssen zeigen, was wir fühlen und was wir uns wünschen. Erst dann kann der andere eine Position dazu finden. Und: Nur weil ich eine Fantasie ausdrücke, heißt das nicht, dass ich sie auch umsetze.
„Offene Beziehung bedeutet in erster Linie offene Kommunikation“
wmn: Du lebst selbst in einer offenen Beziehung. Ist das die Lösung, damit es nie wieder zu Betrug und gebrochenen Herzen kommt?
Aino Simon: Es gibt nicht die offene Beziehung. Ich sehe sowohl die Monogamie als auch alle offenen Beziehungsmodelle als ein Spektrum. Offene Beziehungen beginnen mit der Offenheit nach innen – zu dir selbst. Im zweiten Schritt bedeutet sie, dass du dich deinem Partner gegenüber öffnest und gemeinsam über Bedürfnisse gesprochen wird.
Wenn es einen guten Austausch gibt, kann ein Paar überlegen, welche Freiräume sich jeweils eingeräumt werden können. Es geht darum, einen einvernehmlichen Raum für Bedürfnisse zu schaffen, damit niemand unbewusst oder unreflektiert etwas tut, das den anderen verletzt. Das ist eine offene Beziehung.
„Dass in Beziehungen betrogen wird, ist die Realität.“
wmn: Wie hängen Betrug & Monogamie miteinander zusammen?
Aino Simon: Dass in Beziehungen betrogen wird, ist die Realität. Wenn wir über Monogamie reden, müssen wir auch über Betrug reden, denn er ist Teil davon. Wir wollen das nicht wahrhaben, denn wir lieben die Monogamie. Sie gibt uns Sicherheit und Heimat und Schutz und das brauchen wir dringend.
Aber auf der anderen Seite gehören Betrugserlebnisse einfach dazu. Das passiert in ganz vielen Beziehungen. Deswegen sollten wir anfangen, darüber zu sprechen, wie Betrug im Vorfeld verhindert werden kann und wie wir damit umgehen, wenn es passiert ist.
„Schwerer als der Betrug selbst, wirken häufig die Lügen, die darum gebaut worden sind.“
wmn: Was macht Betrug in Beziehungen mit Menschen?
Aino Simon: Die psychischen Auswirkungen eines Betruges sind gewaltig. Schwerer als der Betrug selbst, wirken häufig die Lügen, die darum gebaut worden sind. Man kann nicht mehr wissen, ob der/die Partner:in die Wahrheit sagt und ob man der eigenen Wahrnehmung trauen kann. Und das löst in ganz vielen Menschen ein Gefühl von Orientierungslosigkeit aus.
Alles, was zuvor galt, steht jetzt infrage. Wem kann ich noch vertrauen, wenn ich nicht mal mehr meiner eigenen Wahrnehmung vertrauen kann? Das ist meiner Erfahrung nach das Schlimmste, worunter Betrogene leiden: der Verlust der Sicherheit, sich auf die eigene Wahrnehmung verlassen zu können.
Man kann Betrug in der Beziehung verarbeiten – und sogar daran wachsen.
Aino Simon
Und deshalb dauert die Verarbeitung von Betrug oft so lange. Es geht aber. Man kann das verarbeiten. Man hört so oft, dass Menschen sagen „Wenn mein Partner mich betrügt, dann bin ich weg.“ In der Realität ist das aber nie so einfach. Die meisten klammern sich an ihre Beziehung.
Denn in einem Moment, wo man jede Sicherheit verloren hat, gehen die Menschen nicht los und freuen sich über ihr neues Singledasein, weil das mit noch mehr Unsicherheit verknüpft ist. In der Regel klammern sich Menschen, die das erlebt haben, an das Alte. Das ist eine ganz natürliche Reaktion.
„Was eine betrogene Person unbedingt braucht, ist Fürsorge und Zuwendung.“
wmn: Was kann jemand tun, der/die betrogen hat?
Aino Simon: Das Wichtigste, was der/die Betrügende machen muss, ist zuzuhören – ohne sich zu verteidigen. Er oder sie muss wahrnehmen, was beim anderen ausgelöst wurde und Anteil daran nehmen. Man kann auch versuchen, Raum zu geben, um diese Gefühle auszudrücken. Das passiert in der Regel aber nicht. Denn die, die betrogen haben, fühlen sich ihrerseits häufig furchtbar elend und haben ein schlechtes Gewissen. Sie sind auch Opfer ihrer eigenen Handlungen, was wir oft vergessen.
Der Betrügende wird nun mit dem konfrontiert, was er ausgelöst hat und sieht auch, wie seine Welt droht zu zerbrechen. Das führt dazu, dass er mit seinem eigenen Schmerz beschäftigt ist und das Leid des Partners kaum ertragen kann. Damit begibt er sich in einer Abwehrhaltung. Und das ist genau der falsche Weg. Denn das, was eine betrogene Person unbedingt braucht, ist Fürsorge und Zuwendung.
„Wir müssen aufhören, Betrügende zu verurteilen“
wmn: Ich höre da etwas Verständnis für Betrügende heraus?
Aino Simon: Viele Betrogene erleben, dass das Umfeld verurteilt, was passiert ist. Es verurteilt denjenigen, der betrogen hat, ohne zu sehen, dass es sich bei Beziehungen immer um Dynamiken handelt. Man kann betrügende Menschen immer verstehen, wenn man es versucht.
Dass Fremdgehen schrecklich ist, ist klar, aber die Beweggründe dahinter müssen trotzdem gehört werden. Ich finde es wichtig, dass wir aufhören, Betrügerinnen und Betrüger zu verurteilen und stattdessen sehen: Dieser Mensch hat es nicht geschafft, seine Bedürfnisse zu erfüllen, ohne einem anderen Menschen wehzutun. Mir tut jeder Mensch leid, dem das passiert.
Wenn Menschen die Fähigkeit fehlt, ihre Bedürfnisse auf eine faire und offene Art zu kommunizieren und zu erfüllen, kann ich das nicht verurteilen. Stattdessen möchte ich ihnen sagen, dass diese Fähigkeiten erlernbar sind, zum Beispiel in einer Paartherapie.
Für ganz viele Paare ist ein solcher Moment der Krise der, an dem es eigentlich erst losgeht mit der Entwicklung. Vor allem Männer merken oft erst jetzt, dass ihnen so lange der Zugang zu sich selbst gefehlt hat und dass sie sich selbst besser verstehen lernen möchte.
„Viele Paare sind am Ende sogar froh, dass der Betrug passiert ist.“
wmn: Ein Betrug bedeutet deiner Erfahrung nach also nicht automatisch das Ende der Beziehung?
Aino Simon: Im Gegenteil. Ich begleite viele Paare, die am Ende eines langen Prozesses sagen: „Ich bin froh, dass das passiert ist. Denn daraus ist eine Nähe zwischen uns entstanden, die es vorher nicht gab.“ Diese Menschen haben Dinge über sich selbst gelernt, die sie vorher nicht wussten.
Und deshalb ist es zwar im ersten Moment furchtbar schmerzhaft, aber auf das ganze Leben gesehen kann ein solches Erlebnis dazu führen, dass man sich selbst völlig neu kennenlernt und daran wächst. Unabhängig von der Partnerschaft ist eine solch intensive Auseinandersetzung mit sich selbst eine Bereicherung in Lebensbereichen.
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