Was bedeutet es, in Einklang zu leben? Harmonie und Lebensfreude – für Autor und Neurowissenschaftler Ken Mogi sind es genau diese zwei Dinge, die aus „in Einklang bringen“ resultieren. Verkörpert werden sie durch die tiefverwurzelte japanische Lebensphilosophie Nagomi, der sich Ken Mogi in seinem Buch „Nagomi: Der japanische Weg zu Harmonie und Lebensfreude“ annimmt.
Eine japanische Lebensphilosophie in der westlichen Welt
Wie viel Einfluss die Gesellschaft auf das eigene Leben und die Person nimmt, zeigt sich Seite für Seite in Mogis Werk. Während viele von uns im Westen gern zeigen, was sie haben oder können, steht bei den Japaner:innen Bescheidenheit im Vordergrund, was die Selbstverwirklichung jedoch nicht ausschließt. Es ist nur eines von vielen Beispielen für den gesellschaftlichen Einfluss auf das Leben. Für uns mag es fremd, gar absurd erscheinen, „gegensätzliche“ Dinge wie Bescheidenheit und Selbstverwirklichung zu vereinen. Doch es ist genau das, was seit Jahrtausenden funktioniert und Nagomi ausmacht: verschiedene Elemente in Einklang zu bringen. Mit seinem Buch möchte der japanische Wissenschaftler den Menschen aus aller Welt das noch unverstandene Fremdwort Nagomi nahebringen und ihnen so einen Weg mit neuen Abzweigungen Richtung Glück eröffnen.
Was ist Nagomi?
In dem Motto „Gegensätze ziehen sich an“ findet sich also auch Nagomi wieder, doch die „Mutter japanischer Lebensphilosophie“ geht noch einen Schritt weiter und führt die vereinten Gegensätze zur Harmonie. Fragt man Ken Mogi, kann man bei der verinnerlichten Form des Nagomis von einem „Zustand des menschlichen Bewusstseins, geprägt von einem Gefühl der Leichtigkeit, der emotionalen Ausgeglichenheit, des Wohlbefindens und der Ruhe“ reden. Und ist es nicht das, wonach wir alle streben; Zufriedenheit? Auf Dauer kann weder all das Geld der Welt noch eine legendäre Erfolgsgeschichte glücklich machen. Nach dem Nagomi-Prinzip sind es andere Indikatoren, die auf den Pfad der Lebensfreude führen: darunter Selbstakzeptanz, Kreativität, eine gesunde Lebensweise, harmonische Beziehungen, lebenslanges Lernen und ein Austausch mit der Natur. Diese müssen nur noch in Einklang gebracht werden.
Nagomi des Ichs
Mit einem Klick ist die App geöffnet und es erscheinen Bilder, Videos und Storys, die gern mal zeigen, wie inszeniert schon das Leben und man selbst sein kann. Fatal für uns Menschen, die schon immer dazu neigen, sich mit den Vorzügen anderer zu vergleichen. Doch was früher nur auf das soziale Umfeld in der realen Welt beschränkt war, hat durch Social Media ein enormes Ausmaß gefunden. Sich davon freizumachen, ist in der heutigen Welt nicht leicht, aber unverzichtbar für Selbstakzeptanz. Mogi fasst es in seinem Buch wie folgt zusammen: „Das nagomi des Selbstwertgefühls beruht auf dem Erkennen des wahren Ich und auf dem Akzeptieren der eigenen Stärken und Schwächen.“ Dazu gehört es auch, Dinge anzunehmen, die man nicht verändern kann.
Nagomi der Kreativität
Das Ego spielt auch bei unserer Kreativität eine Rolle; treibt uns zum einen dazu, uns zu profilieren, zum anderen hindert es uns, eine Passion aus Versagensangst vor anderen auszuüben. Diesem Verhalten liegt das Wertesystem zugrunde, welches in der westlichen Welt besonders stark ausgeprägt ist. Viele „scheuen die Kritik, die ihre Auftritte hervorrufen könnten, und ziehen sich in ihr Schneckenhaus zurück, anstatt ihre Kreativität auszuleben“, heißt es im Buch. Auch wenn Mogi immer wieder betont, dass der japanische Weg zur Kreativität dabei nicht über die zur Schaustellung der Talente führt. Vielmehr ist es das „Wie“, das einem Akt der Balance gleicht: sich selbst gerecht zu werden, ohne sich zu inszenieren; sich auf seine Kreativität einzulassen, ohne dabei dem Ego Beachtung zu schenken; mit der Umwelt in Harmonie zu treten, ohne sich deren Wertung auszusetzen. Was komplex und schwierig klingt, beherrschen wir allerdings seit frühester Kindheit. Wir sind einfach dem nachgegangen sind, was uns Spaß macht, ohne uns groß Gedanken zu machen. Und vielleicht liegt darin das Geheimnis von Nagomi: sich den Freiheiten eines Kindes zu bedienen. Also folgen und vertrauen wir doch unserem inneren Kind, wie schon zu Anfang unseres Lebens.
Nagomi der Beziehungen
„Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ in diesem alten Sprichwort versteckt sich auch Nagomi, jedenfalls, wenn es um Meinungsverschiedenheiten in Beziehungen geht. Denn eine harmonische Beziehung gilt als Schlüssel zu Nagomi, selbst wenn man dafür seine Gedanken für sich behält. Für Menschen der westlichen Welt schwer nachvollziehbar, schließlich plädieren politische Bewegungen wie Feminismus dazu, für sich einzustehen und den Mund aufzumachen. Ken Mogi ist der scheinbare „Widerspruch zur freien Meinungsäußerung und individuellen Entfaltung“ allemal bewusst. „Dabei lassen sich ungezwungene Selbstdarstellung und nagomi durchaus in Einklang bringen“, wie er betont und stellt einen Vergleich zur japanischen Gartenkunst auf: Bei traditionellen japanischen Gärten ist die Umgebung wie die Bergsilhouette am Horizont ebenfalls Bestandteil der Gestaltung. Der vom Menschen erschaffene Teil und das von der Natur bereits vorgegebene Umland gehen dabei eine harmonische Verbindung ein. Es ist ein Wechselspiel, wie wir es auch aus unseren Beziehungen kennen. Wir wollen natürlichen Gegebenheiten und den Menschen nicht verändern, sondern von der Beziehung profitieren. „Zu nagomi zu finden, bedeutet in erster Linie das Erzielen eines Gleichgewichts in sämtlichen zwischenmenschlichen Beziehungen.“ Es ist also nicht gemeint, stets die Meinung hinter verschlossenen Lippen zu verbergen, sondern die Gewichtung ist das Entscheidende: Das Wahren der Harmonie steht über dem Beharren des eigenen Standpunktes. Ob das auf Dauer in unserer Welt zu funktioniert, bleibt fraglich. Sicherlich handelt es sich dabei auch um eine situative Entscheidung und die der eigenen Werte.
Nagomi der Gesundheit und des Essens
Um zu Zufriedenheit zu erlangen, bleibt es nicht aus Geist und Körper in Einklang zu bringen. Und dazu gehören jede Menge Elemente wie zum Beispiel gesundes Essen, genug Bewegung, das regelmäßige Eintauchen in die Natur sowie ein Ikigai zu haben. Das Entscheidende ist, dass diese Elemente in einem Gleichgewicht stehen. Wie bei einem Kuchen: Erst die richtigen Zutaten und die jeweilige Menge führen zu einem wohlschmeckenden Ergebnis. Also nehmen wir uns die Zeit für jedes dieser Dinge und vernachlässigen nicht das ein oder andere Element, durch Stress im Job oder andere Faktoren.
Nagomi des lebenslangen Lernens
Neugierde ist unser Treibstoff, wenn es ums Lernen geht, und diese wird uns ein Leben lang begleiten – auch wenn viele annehmen, mit dem Abschluss der Uni oder Ausbildung gehöre das Lernen der Vergangenheit an. Eine Annahme, die oftmals von Erleichterung begleitet wird. Was sicherlich auch daran liegt, dass in der westlichen Welt Lernen meist mit Leistung einhergeht. Doch Lernen bedeutet nicht gleich Leistung, es kann auch einfach den Horizont erweitern, ohne die neu erlangte Expertise beweisen zu müssen. Finden wir die Freude an neuem Wissen wieder. Denn „so wie unser Herz ein Leben lang schlägt, so hören auch die kleinen grauen Zellen nie auf zu lernen“. Der Neurowissenschaftler geht sogar noch einen Schritt weiter: „Für das menschliche Hirn ist Lernstoff ebenso essenziell, wie Atemluft es für die Lunge ist.“ Schließlich gehe es nicht nur das Erweitern von Wissen, sondern auch um Selbstentwicklung. Mogi betrachtet „das Leben selbst [als steten] Lernprozess und nagomi [als] wertvolle Frucht des Lernens.“ Wozu auch der Austausch von Alt und Jung gehört.
Nagomi des Lebens
Zur Akzeptanz des Ichs gehört auch das Annehmen des Älterwerdens. Nicht gerade einfach in unserer und auch anderen Kulturen, die alle danach streben, die Jugend und damit verbundene „Schönheit“ zu wahren. Doch was ist mit der Schönheit des Alterns, die tiefer geht als die äußere Hülle? Wie Ken Mogi schreibt: „Wer der ewigen Jugend nachjagt, übersieht leicht die Schönheit, die das Alter mit sich bringt.“ Anders gesagt: Wer immer an gestern festhält, verpasst das Jetzt und Hier. Der Blick aufs Äußere kann ablenken von dem wahren Kern des Moments. Immer wieder erkenntlich durch Menschen, die an schönen Orten die Zeit für das perfekte Foto nutzen, anstatt sich dem Jetzt vollkommen zu widmen.
In Japan gilt die Kirschblüte als Metapher fürs Leben – eine Blume, die nur kurz, dafür in voller Pracht blüht. So erzählt Mogi vom Kirschblütenfest Hanami, bei dem es symbolisch darum gehe, das Leben zu genießen, solange man dazu in der Lage sei, weil es jederzeit zu Ende sein kann. Denn „in dieser Welt ist nichts von Dauer, außer der Wandel selbst.“ Nehmen wir also den Wandel an, auch unseren eigenen. Unsere Blüte des Lebens ist nicht mit den ersten Falten vorbei, sondern erst dabei sich zu öffnen.
Nagomi der Natur
Der Bonsai ist wohl das perfekte Beispiel für Nagomi. Denn hier gehen das Natürliche und Künstliche, durch den Menschen erschaffen, Hand in Hand. Wir selbst sind Teil der Natur, haben eine Verantwortung, der wir abgesehen von den Bonsai-Bäumen derzeit nicht gerecht werden. Es ist wie in einer Beziehung ein Geben und Nehmen; beides muss in einem Gleichgewicht stehen, sonst wird es toxisch. Lasst uns die Welt wieder in eine Balance bringen und reparieren, was wir kaputt gemacht haben. „Nagomi der Natur bedeutet, sich der komplexen Zusammenhänge bewusst zu sein, auf denen solche Ökosysteme beruhen.“
Nagomi der Gesellschaft
Auf der gesellschaftlichen Ebene zeigt sich auch das Nagomi der Beziehung, schließlich geht es auch hier um Verbindungen. Ob in der länderübergreifenden Wirtschaft oder national in der Politik beruhe laut Mogi die westliche Herangehensweise oftmals zu sehr auf Konfrontation statt Harmonie. Nach Nagomi steht auch hier die Harmonie im Mittelpunkt, allein des Ergebnisses willen. „Im Geiste von nagomi sollten wir auch mit unserem ärgsten Gegner eine Zusammenarbeit anstreben und eine gute Beziehung pflegen.“ In der Theorie ergibt das durchaus Sinn … Mogi ist sich natürlich bewusst, dass „die heutige Welt […] von Spannungen zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsstrukturen und Werten gekennzeichnet [ist].“ Wir handeln zum größten Teil nach unserem Werteverständnis in der Annahme, das sei das „Richtige“. So geht es uns allen und dennoch haben wir eine unterschiedliche Auffassung davon. Es ist sicherlich nicht verkehrt, sich immer wieder vor Augen zu führen, dass es verschiedene Antworten gibt. Und doch sind „alle Menschen, egal welcher Nation sie angehören, […] gleich und haben die gleichen Träume und Ziele.“ Das Wie ist ein anderes und es verdient Akzeptanz.
Die fünf Säulen des Nagomis
Stehen alle diese Teilbereiche untereinander und für sich im Einklang, hat man den Zustand von Nagomi erreicht. Erkenntlich wird das laut Mogi an den fünf folgenden Säulen:
1. Das Führen einer glücklichen Beziehung trotz Meinungsverschiedenheiten.
2. Neues lernen und sich dabei treu bleiben.
3. Frieden in allen Tätigkeiten finden.
4. Ungleiches verbinden, um in den Genuss eines harmonischen Gleichgewichtes zu kommen.
5. Die japanische Lebensphilosophie verstehen und vertiefen.
Natürlich lässt sich eine jahrtausendealte Lebensphilosophie nur schwer auf rund 170 Seiten zusammenfassen, doch Mogi gibt einen Denkanstoß und lässt uns mit Nagomi unsere Verhaltensmuster hinterfragen. Es gibt nicht die eine Entscheidung, die zum Anfang vom Happy End wird; vielmehr ist es eine ausgewogene Kombination an Elementen, die für Zufriedenheit sorgen.
Lebst du Nagomi führt alles zum Einklang: mit dir selbst, mit den Menschen in deinem Leben, mit der Umwelt und all den Dingen, die du anfasst, dir zunutze machst. Doch am Ende bleibt es einem selbst überlassen, ob man um der Harmonie willen, Meinungen, Freiheiten und Selbstdarstellung für sich behält. Unsere westliche Welt steht dazu in einer scheinbaren Gegenbewegung, aber vielleicht findet sich ja auch hier ein Nagomi. Es bleibt also auch eine Frage der eigenen Interpretation. Was dem einen schmeckt, ist für den anderen zu sauer. Wie Ken Mogi selbst in seinem Buch schreibt: „Niemand versteht so gut, du zu sein, wie du selbst.“
Autorin dieses Artikels ist Judith Püschner.